Die Studentin, die der Teufel holte – Der Fall Anneliese Michel

Shownotes

Im Oktober 1975 beginnt für Anneliese Michel und ihre Familie ein beispielloses Martyrium zwischen Glaube und Wissenschaft. Ich erzähle, wie eine junge Frau aus Unterfranken in den Strudel aus epileptischen Anfällen, religiösem Zweifel und dämonischer Angst gerät. Während Ärzte von Psychose und Depression sprechen, vertraut die Familie auf die Kirche – bis zum bitteren Ende. In diesem bewegenden Fall treffen Medizin und Religion, Schuld und Hoffnung aufeinander und lassen Fragen zurück, die bis heute nachhallen. Begleite mich auf eine Reise durch Schrecken, Zweifel und das Ringen um Erlösung.

Anneliese Michel

https://de.wikipedia.org/wiki/Anneliese_Michel

Exorzismus

https://de.wikipedia.org/wiki/Exorzismus

Epilepsie

https://de.wikipedia.org/wiki/Epilepsie

Rituale Romanum

https://de.wikipedia.org/wiki/Rituale_Romanum

Landgericht Aschaffenburg (Fall Anneliese Michel)

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/anneliese-michel-der-exorzismus-prozess-a-1095812.html

Psychose

https://de.wikipedia.org/wiki/Psychose

Katholische Kirche

https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%B6misch-katholischeKirchein_Deutschland

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00:00:00: Es ist Oktober 1975. Ein kleines Haus in Klingenberg am Main, Unterfranken. Kerzenlicht flackert auf Wänden, die zu atmen scheinen. In der Mitte des Zimmers eine junge Frau, sie zittert, ihr Gesicht ist eingefallen, ihre Lippen aufgerissen vom Beten.

00:00:21: Zwei Priester knien neben ihr, in ihren Händen ein Kruzifix und ein Beutel Weihwasser. Jemand liest laut aus der Bibel, dann ein Schrei, tief, roh, wie aus einer anderen Kehle.

00:00:38: Er schneidet durch den Raum und verstummt. Die Frau heißt Anneliese Michel, zweiundzwanzig Jahre alt, Studentin, gläubig, ehrgeizig und überzeugt, dass etwas in ihr lebt, das nicht sie selbst ist.

00:00:55: In den kommenden Monaten wird sie mehr als 60 Exorzismen über sich ergehen lassen. Nicht im Mittelalter, nicht in Rom, in der Bundesrepublik Deutschland – 1975. Damals sagt die Medizin "Epilepsie", "schwere Depression", die Kirche sagt "Besessenheit".

00:01:19: Und Anneliese steht zwischen beiden Wahrheiten, gefangen in einem Körper, den niemand mehr versteht. Sie war nicht immer so. Früher war sie eine von denen, die nach dem Gottesdienst lachen können. Sie lernte gut, wollte Lehrerin werden, betete jeden Abend aus Überzeugung, nicht aus Angst.

00:01:44: Doch irgendwann beginnen die Anfälle, zuerst kurz, dann häufiger. Sie sagt, sie fühle Druck auf der Brust, könne nicht atmen. Ärzte verschreiben Medikamente, aber der Druck bleibt.

00:02:00: Und dann kommen die Stimmen. Sie hört sie, wenn sie betet. Sie lachen. Manchmal sagen sie ihren Namen.

00:02:13: Bevor die Schreie kamen, war sie einfach Anneliese, ein Mädchen aus Unterfranken. Dritte von vier Töchtern, streng katholisch erzogen, aber freundlich, still, fleißig. Sie spielt Klavier, singt im Kirchenchor, träumt davon, Lehrerin zu werden.

00:02:34: Ihr Glaube ist tief, kein Zwang, sondern halt. In einem Dorf, wo man sich noch verbeugt, wenn der Pfarrer vorbeigeht. 1968 – sie ist 16, der erste Anfall kommt nachts, ihr Körper verkrampft, sie beißt sich auf die Zunge, weiß danach nicht mehr, was passiert ist.

00:02:56: Ein Arzt "Epilepsie". Man verschreibt Medikamente, niemand macht sich große Sorgen, doch etwas bleibt. Ein Gefühl, beobachtet zu werden, ein Schatten in der Kirche, wenn sie betet.

00:03:13: Sie erzählt es nicht. Nur in ihr Tagebuch schreibt Sie "Ich will gut sein, aber ich schaffe es nicht". Als sie aufs Gymnasium wechselt, beginnt sie immer häufiger zur Beichte zu gehen, manchmal mehrmals pro Woche.

00:03:30: Sie hat Angst, Fehler zu machen, Angst vor Schuld. Für ihre Mutter ist das Frömmigkeit, für Freunde wirkt es, als ob sie sich bestrafen will. 1970 zieht sie zum Studium nach Würzburg. Dort, in der Anonymität der Stadt, beginnt etwas, das niemand genau versteht.

00:03:50: Sie fühlt sich leer, klagt über Stimmen, sagt, sie könne nicht in die Nähe von Kruzifixen gehen. Manchmal riecht sie plötzlich Schwefel. Ein Arzt schriebt "depressive Psychose". Ein Priester "geistige Prüfung".

00:04:08: Und während Medikamente nicht helfen, wächst in ihr die Überzeugung, dass das Böse sie gefunden hat. Im Mai 1975 bittet sie die Kirche um Hilfe, nicht mehr als Patientin, sondern als Gläubige.

00:04:24: Sie sagt "Ich kann nicht mehr beten". Etwas in mir lacht, wenn ich es versuche.

00:04:34: Im Sommer 1975 beginnt der Bruch. Anneliese wird schwächer. Sie isst kaum noch, schläft unruhig, murmelt im Halbschlaf Worte, die niemand versteht. Ihre Mutter sagt, sie erkenne ihre Tochter nicht wieder. Manchmal steht sie mitten in der Nacht auf, läuft barfuß durchs Haus, flüstert Gebete, bis sie heiser ist.

00:04:57: Dann wieder schreit sie ohne Grund, ohne Ziel. Ärzte wechseln die Medikamente, raten zu einer Klinik, aber die Familie vertraut der Kirche mehr als der Medizin. Ein Pfarrer kommt, hört sie beichten, sieht die Zuckungen, die Angst in ihrem Blick.

00:05:19: Er schreibt an den Bischof "Ich glaube, sie ist besessen". Erst zögert die Kirche, dann erlaubt sie den sogenannten kleinen Exorzismus. Gebete, Weihwasser, Kreuze ohne den offiziellen Ritus.

00:05:39: Doch Anneliese verändert sich weiter. Ihre Stimme wird tiefer. Sie sagt, sie könne nicht mehr in eine Kirche gehen. Kruzifixe ekeln sie an. Sie spricht von Gestalten, die sie nachts sehen, von Gesichtern mit Fratzen, die sie auslachen.

00:05:58: Freunde meiden sie. Ihr Körper ist gezeichnet von Krämpfen, blauen Flecken, aufgerissenen Lippen. Ihre Mutter berichtet, sie habe versucht, den Rosenkranz zu essen. Die Ärzte sagen, das sei Teil einer Psychose.

00:06:15: Die Priester sagen, es sei Widerstand der Dämonen. Zwischen diesen Deutungen zerrinnt Anneliese. Sie sagt "Ich bin nicht mehr ich". Im September erlaubt der Bischof den großen Exorzismus nach dem alten Rituale Romanum.

00:06:34: Zwei Priester werden beauftragt ihn durchzuführen. Sie beginnen am 24. September 1975. Es ist der erste von 67 Riten. In einem Zimmer, kaum größer als eine Schulklasse, knien Eltern, Priester Anneliese.

00:06:56: Sie halten sie fest, beten laut. Sie schreit, krümmt sich, stößt Laute aus, die kaum menschlich klingen, stundenlang. Danach liegt sie erschöpft auf dem Boden. Sie sagt, in ihr seien sechs Geister.

00:07:16: Judas, Kain, Nero, Hitler, Fleischmann und Luzifer selbst. In ihren Augen glimmt etwas, das niemand deuten kann. Schmerz, Wahn oder etwas, dass die anderen wirklich fürchten.

00:07:37: Der Winter 1975 wird zur Prüfung für alle. Anneliese verliert weiter Gewicht, ihre Haut ist blass, die Lippen blutig vom Beten. Sie fastet, weil sie glaubt, das Böse nur so schwächen zu können.

00:07:54: Die Sitzungen werden länger, härter, unregelmäßiger, manchmal drei in einer Woche, manchmal tagelang keine. In diesen Pausen hört sie Stimmen, die sie verhöhnen. Sie nennt sie beim Namen, spricht mit ihnen, droht ihnen.

00:08:11: Ihr Körper wirkt fremd, verdreht sich in Winkeln, die unmöglich scheinen. Ihre Eltern stehen daneben, beten, weinen. Sie sind überzeugt, dass sie ihr Kind retten, nicht verlieren. Ein Tonband läuft mit, jedes Mal.

00:08:29: Stunden von Gebeten, schreien, Flüchen. Ich bin nichts mehr, sagt sie einmal leise dazwischen. Ich bin nur noch zum Leiden hier. Die Priester wechseln zwischen Mitleid und Überzeugung.

00:08:45: Sie sehen in ihrem Leid ein Zeichen. Als sie in einem der Riten sagt, sie sehe die Jungfrau Maria, glauben sie, das Ende sei nah, die Erlösung. Doch Anneliese wird schwächer. Sie kniet, bis ihre Beine nachgeben.

00:09:01: Sie beißt sich selbst, weil sie sagt, sie müsse Buße tun für andere. Ihre Eltern verstecken die Schlüssel zum Keller, weil sie versuchen will, sich zu fesseln. In Würzburg spricht man von ihr, aber niemand weiß genau, was passiert. Der Arzt, der sie zuletzt sah, schreibt einen Bericht: Psychose verbunden mit religiöser Fixierung, Lebensgefahr.

00:09:27: Aber niemand bringt sie ins Krankenhaus. Die Familie fürchtet, man würde die Dämonen dort nur provozieren. Im Mai 1976 kann sie kaum noch gehen. Ihre Stimme ist heiser, ihr Blick leer.

00:09:44: Sie schreibt in ihr Tagebuch Ich will nicht sterben, aber vielleicht ist das der einzige Weg, frei zu sein. Ende Juni verweigert sie jede Nahrung.

00:10:01: Am 1. Juli 1976 stirbt sie in ihrem Bett, 23 Jahre alt, 30 Kilo schwer. Neben ihr ein Rosenkranz, ein zerlesenes Gebetbuch, ein Kreuz. In den letzten Stunden hat sie geflüstert "Mutter, ich habe Angst".

00:10:22: Danach Stille, keine Stimmen, keine Schreie, nur das Ende einer Geschichte, die niemand mehr verstehen kann.

00:10:36: Im Herbst 1976 beginnt der Prozess. Anneliese Michel ist tot, doch ihr Name steht in allen Zeitungen. Die Eltern und die beiden Priester werden wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.

00:10:52: Im Gerichtssaal riecht es nach Papier und Staub. Auf der Anklagebank sitzen Menschen, die glauben, das Richtige getan zu haben. Die Staatsanwaltschaft spricht von unterlassener Hilfeleistung, von Aberglauben, von Ignoranz.

00:11:09: Die Verteidigung spricht von Glaube, von einem außergewöhnlichen Fall, von Verantwortung vor Gott. Tonbänder werden abgespielt, das Atmen, das Schreien, das Knurren. Niemand im Saal kann lange zuhören.

00:11:29: Ärzte sagen, sie war krank, Priester sagen, sie war gequält. Ein Gutachter beschreibt sie als Opfer einer massiven religiösen Fehlinterpretation. Nach Wochen fällt das Urteil – schuldig, aber mit mildernden Umständen.

00:11:48: Bewährungsstrafe. Für viele im Saal fühlt es sich an wie ein Kompromiss zwischen Himmel und Erde. Nach dem Prozess zieht sich die Familie zurück, das Haus bleibt still. Besucher berichten, die Mutter zünde jeden Abend eine Kerze am Fenster an.

00:12:09: Der Bischof distanziert sich, die Kirche schweigt und die Welt vergisst. Jahre später erscheinen die Tonbandaufnahmen im Internet, kursieren in Foren, in Filmen, in Diskussionen.

00:12:28: Für manche ist sie Beweis des Übernatürlichen, für andere Symbol einer Tragödie zwischen Glaube und Krankheit. Ihr Grab in Klingenberg wird zu einem Ort, an dem Menschen beten, flüstern, Fragen.

00:12:44: Manche lassen Kreuze da, andere Notizen. Auf ihrem Grabstein steht nur ihr Name, ein Datum und ein schlichtes Wort. Ruhe. Doch zwischen Medizin und Religion, Schuld und Gnade findet sie die bis heute nicht.

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